Am 25.06. habe für Herrn W. um 13 Uhr einen Termin zur Nachbesprechung seiner Bestrahlung. Herrn W. kenne ich einige Jahr, er kommt aus dem Osten und sieht aus wie ein Nebendarsteller aus einem Western. Er ist Alkoholiker, Mitte 50, Frührentner und viel von einem Mitsäufer, einem Herrn S. in seiner Wohnung verprügelt und beklaut worden. Das war immer grenzwertig, aber er wollte dort bleiben. Keine Unterlassungsverfügung half, weil er immer brav aufgemacht hat und irgendwie auch lieber krawalligen Besuch haben wollte als alleine zu sein und Heim sowieso nicht.
Herr W klagte eine Tages über Halsschmerzen und ist am 26.02. in Begleitung des Sozialarbeiters (ambulante Wohnbetreuung) über NHO-Arzt im Nordstadtrankenhaus gelandet. Dort wurde ein Tumor im Hals entdeckt. OP-Termin war anberaumt für den 18.03.2013. Dann kam Atemnot, Notaufnahme, künstliches Koma mit Beatmung am 04.03. und OP am 06.03. (Tracheotomie). Es stellt sich heraus, dass der Tumor durch alle Halsschichten hindurch gewachsen ist und daher nicht zu operieren. Magensonde folgte. Am 05.06. wurde die Bestrahlung beendet wie ich zufällig erfuhr durch einen Anruf in der Horrorburg.
Am heutigen Tag muss ich zunächst durch das Kreuzfahrtschiff laufen und komme dann an der Anmeldung HNO an. Der Schalter ist mit zwei Damen besetzt, aber die bedienen nicht gleichzeitig. Die Patienten warten sehr lange, teilweise auch welche mit Tracheostoma und Schläuche, die überall zum Vorschein kommen und die sich kaum auf den Beinen halten können. Man fragt sich, was so lange dauern kann. Ich bin an der Reihe, ja, ich will Herrn W. anmelden, die Überweisung kommt gleich mit ihm, der in Begleitung der Johanniter kommen wird. Ich bekomme die Nr. 54. Es ist 12:35 Uhr. Aus der Anmeldebox hört man immer so gestresste Wortfetzen wie: „das nennt man Burnout“ und „wer hat das denn wieder gemacht, ich glaub es nicht“, „ich finde die Akte nicht“. Herr W. erscheint in Begleitung von zwei netten Pflegern. Alle tragen Mundschutz, denn er hat einen Orsa-Keim, den er sich zuvor in diesem Haus eingefangen hat. Einen Extraraum gibt es nicht, er soll im Gang etwas abseits warten. Ich überreiche die Überweisung. Eine Mitarbeiterin ist der Meinung, ja, aber für das letzte Quartal fehle diese und sei schon mehrfach abgemahnt. Sie komme gleich wieder. Sie kommt nicht wieder. Ich stelle mich erneut an um den Sachstand zu erfragen. Dann heißt es Irrtum. Wir warten knapp 2 Stunden. Ich gehe mehrfach zu der Box. Die Frauen hauen schon ab, wenn sie mich sehen. Auch andere Patienten sind abgenervt: „Wir warten hier schon seit 4 Stunden und wir kommen aus Bielefeld“. Mir sagt man nach erneuten 10 Minuten anstehen an der Box: Behandlungsraum 3 seien noch 2 Patienten vor uns. Wie eine Hütehund behalte ich alles im Auge als die Nr. 39 und 53 zwei Patientinnen in dem Raum waren, kommt Nr. 56 an die Reihe. Ich wieder nach vorne. Man kann mir nicht weiterhelfen. Eine andere Frau meint als sie das mitbekommt: „das geht an die Substanz“. Als 56 raus geht, husche ich in den Raum rein. Ein persisch aussehender Arzt sitzt vor einem Rechner. Er weiß nicht um was es geht und muss sich Berichte des Krankenhauses aus meiner Akte kopieren. Sei Herr W. denn schon bestrahlt worden? Ja, heute Nachbesprechung, erkläre ich dem Arzt. Wir kommen in einen OP-Raum. Der bisherige Bewohner, im Rollstuhl und ebenfalls mit Mundschutz muss weichen und sitzt nun im Gang. Wieder vergeht eine halbe Stunde und man fühlt sich wie auf dem Abschiebegleis. Ich frage den anderen Mann: Sie hat man wohl auch hier vergessen? Er kann nicht richtig sprechen und zuckt mit den Schultern. Dann kommt der Arzt von eben mit einem Kollegen. Dieser zieht sich Mundschutz und Handschuhe an und zieht das Tracheoskop leicht aus dem Hals, ohne vorher ein Wort an mich oder meinen Schützling zu richten. Diese Aktion wirkt sich aus als würde man einen Knick in den Beatmungsschlauch eines Beatmeten biegen, d.h. Herr W. wird geschüttelt von einem Hustenanfall. Ich sehe das Loch im Hals und kann kaum hinsehen. Dann heißt es, Krebs noch da, macht alles keinen Sinn. Bestrahlung geht nicht mehr, weil der Mensch verträgt nur eine bestimmte Menge an Bestrahlung, vielleicht medikamentöse Therapie, erst mal Staging usw. Ich frage nach, was das genau bedeutet. Außerdem erinnere ich mich an die Worte zu Beginn der Sache am 30.04. Bestrahlung, gute Erfolge, dann ist das Ding weg. Ich war ja damals schon skeptisch angesichts des Optimismus der Schulmedizin und meine Erfahrungen mit anderen Fällen. Leicht angeekelt lässt mich der Doktor nun wissen, dass es wohl recht beschissen aussieht und wenn der Tumor durch die Haut bricht, muss man einen Hautlappen davor nähen. Irgendwie so was. Herr W., der seine Freiheit liebt und nun im Pflegeheim lebt wollte wieder in seine Wohnung zurück und versteht aufgrund des Korsakows recht wenig. Das ist vielleicht auch besser. Mittlerweile sind mehrere Abholdienste eingetroffen und mindestens noch ein Orsa-Patient, der allerdings mit einem Freund und zu Fuß da ist. Beide tragen Mundschutz. Es mutet an wie in einem Science Fiction und die Mitarbeiter des Hauses beschweren sich auch: was das denn sei, drei Orsa-Patienten auf einmal. Ja, Mensch, bei euch haben sie sich das doch vorher eingefangen, will man sagen.
Ich will für den Rücktransport sorgen nach knapp 4 Stunden. Dafür sei eine Schwester zuständig heißt es aus der Box, die würden dahinten rumlaufen. Die Schwester ist ein asiatischer Pfleger. Ich gebe ihn den kopierten Transportschein, auf den ich mir die Rufnummer von dem Bringdienst habe notieren lassen sowie eine Kopie der Kostenzusage der Krankenkasse. Ja, er kümmert sich. Ich stelle mich noch mal an die Box an. Ein letztes Mal. Der dritte Orsa-Patient wartet hinter mir. Im Gegensatz zu den anderen hat er ganz wache Augen und schaut mich interessiert an und lächelt über seine Augen. Mund ist ja hinter der Keimburka versteckt. Er ist sehr sympathisch und ich lächele zurück mit allem was mir zur Verfügung steht. Es haben sich endgültig alle Frauen verpisst und sie kommen auch nicht auf ein „hallo“ in die Box hinein. Der Asiate schaut auf der anderen Tür raus, alles sei klar. Transportdienst kommt und zu Herrn W. auf seine Frage, wie lange das dauern würde zwischen 20 – 45 Minuten. Ich bleibe trotzdem bei der Box bis meine Freundin erscheint. Ich sage ihr. Ich gehe jetzt. Herr W. wartet dort, wo er die ganze Zeit über sitzt. Der Asiate hat die Unterlagen für den Rücktransport in die Akte genommen. Kaum im Büro angekommen kommt der Anruf der Johanniter, ob es einen Transportschein gebe und wo dieser sei. Das Krankenhaus meinte, die Betreuerin habe ihn mitgenommen. Es ist schwer an dieser Stelle nicht auszuflippen, aber ich mache meinem Unmut über diesen Chaos-Haufen freien Lauf. Die Frau bedankt sich für die Info. Ich hätte jetzt doch weiter geholfen im Gegensatz zu der Horrorburg mit den drei Buchstaben.
Es kann einem viel passieren, aber Gott beschütze mich vor so etwas am eigenen Leib, ist mein Fazit des Tages.