Nach knapp 1,5 Jahren geht es endlich mal wieder nach Berlin. Ich merke den Entzug, außerdem ist die Vorfreude riesig und die ganze Reise durchorganisiert und von langer Hand geplant (ca. 4 Wochen). Morgens noch eine kleine Blutentnahme und etwas Gerichtspost und dann kann es auch schon los gehen.
Wir werden Freunde treffen, die ich länger kenne als Stephan und das ist schwer zu schaffen und darauf freue ich mich besonders. Dann ist es gelungen andere alte Freunde, die ich auch länger kenne als Stephan aus Hamburg dazu zu locken und noch welche, die jetzt über Hamburg in Lübeck wohnen (der gemeinsame Ausgangsort war einmal vor 25-27 Jahren Bayreuth); großer Auftrieb also und Freunde aus Hannover werden wir auch dazu stoßen sowie meine Strickfreundin Heike.
Letztes Mal waren wir halbdienstlich in Berlin (Anhörung in einer Betreuungssache. Ja, ich hatte mal eine in Berlin). Ich hatte mir damals im Vorfeld vorgenommen Berlin doof zu finden. Als wir ankamen und ich einmal durch den U-Bahn Hof Alexanderplatz gelaufen bin, habe ich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommen. Wir trafen damals abends die alte Freundin, die wir aus Bayreuth kennen, Brigitte. Sie ist über Hamburg nach Berlin gekommen und wohnt in Mitte, mitten drin. Wir wollten thailändisch essen, irgendwas, was es bei uns nicht so gut gibt und sie schlug vorsichtig einen Koreaner bei ihr in der Straße vor. Der wäre etwas teurer und es wäre immer leer. Das waren die ersten beiden Beschreibungen. Als wir dann erfuhren, dass das Restaurant erst vor einer Woche eröffnet hatte und uns erinnern, dass teuer in Berlin heißt, dass die Gerichte auch mal mehr als 5,- € kosten können, sind wir bereit diesem Laden eine Chance zu geben. Mir gefällt die Einrichtung. Ein Künstler hat die weißen Wände mit explodierendem Essen aus einem Kochtopf bemalt. Ein Tiger ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Laden wird geführt von einem supersüßen Pärchen, in die ich mich etwas verliebe. Sie ist Koreanerin und er ist Koch und Spanier und hat vorher in der Schweizer Botschaft gekocht. Es gibt koreanisches Essen, aber im Tapasstil, d.h. Kleinigkeiten und man kann sich durchprobieren. Das ist immer sehr in unserem Sinn, viel durchzuprobieren. Total liebevoll erklärt uns die Hausherrin einiges über die koreanische Küche, dass der Reis bei ihnen nie so neutral schmecken würde wie in China oder Japan, sondern immer aus einer Melange besteht mit Vollkornanteilen und immer einen ausgeprägten Eigengeschmack hat. Das merke ich mir. Das Kimchi ist hausgemacht und das Essen wirklich sehr gut. Wir verbringen einen herrlichen Abend und sind die einzigen Gäste, was vielleicht auch gut ist, da wir schon etwas angetrunken ankommen, nachdem wir privat vorgeglüht haben. Zum Abschied lobt die Chefin mein Filzhütchen. Es besteht aus einer Rolle, die ich mit japanischen Lebensmittelpiekern mit kleinen Figuren darauf, Eiern, Brokkoli, Scampi, alle haben ein Gesicht verziert habe, die alle oben rausschauen, manchmal aber leider die Richtung wechseln und nach hinten schauen. Die Rolle wird an zwei Haarclips befestigt. Das zeige ich ihr und sie zeigt mir anhand des Wandgemäldes die Stelle, die beweist, dass mein Kopfschmuck traditionell koreanisch aussieht. Abgebildet ist ein Pärchen vor einem Kochtopf an einer Feuerstelle. Eine Postkarte nehme ich mit, die dieses Motiv darstellt und schicke Brigitte eine Farbprobe mit zwei unterschiedlichen Magenta-Tönen. Dieser Farbton findet sich in der Inneneinrichtung wieder, so dass ich der Frau daraus ein Filzhütchen machen will. Kurze Zeit später kommen meine Proben zurück und Brigitte schreibt dazu, dass sie beide Farben mag, ohne schwarz oder weiß dazu. Dann tut sich über 1 Jahr nichts. Als vor ein paar Wochen die Idee wächst meinen Geburtstag in Berlin zu verbringen, mache ich mich daran, das versprochene Hütchen zu filzen. Der Laden brummt laut Aussage von Brigitte und die Frau rechnet da bestimmt nicht mehr damit, dass ich meine Zusage einhalte nach über einem Jahr oder hat mich vielleicht schon vergessen. Umso besser. Ich filze eine Doppelrolle und nähe einen Fisch, einen kleinen roten Kochtopf, eine kleine Metallpfanne mit zwei Chilis darauf sowie ein Porzellanknopf mit einem Kohl, den ich mal in New York in einem riesigen Kurzwarenladen erworben habe. Ich versuche die Kopfbedeckung von der Postkarte nachzuempfinden beim Filzen und Nähen. Außerdem entleere ich einen Babytiger, den ich mal bei Budni in Hamburg gekauft habe und der jahrelang auf seinen Einsatz gewartet hat. Das Badedas darin ist schon ganz eingetrocknet. Er badet in seinen Innereien, nachdem ich ihm den Bauch mit einer Nagelschere aufgeschnitten habe, der Arme. Die Szene erinnert etwas an „Schiffbrüchig mit Tiger“.
Aus dem Baby-Tiger mache ich mir selber noch ein Hütchen, was ich passend und angemessen finde und fiebere so dem heutigen Abend entgegen. Die Frau von Kochu Karu ist auch schon ganz gespannt, schreibt Brigitte und ich erst. Es passiert selten bzw. ist ein echtes Novum, dass ich nach Gutdünken ein Hütchen mache und einer fremden Frau übergebe. Wie wird sie es finden, wie wird es ankommen? Wird es ihr stehen? Wird es sitzen und halten? Die Aufregung des Regisseurs vor einer Opernpremiere kann nicht größer sein.
Die Zugfahrt ist immer mit Verwerfungen verbunden. Diesmal ist es eine Reisegruppe aus Düsseldorf, die den Schaffner holt kurz vor Magdeburg um uns von unseren Plätzen zu vertreiben. Als wir herum maulen, dass die das ja früh merken mit der Reservierung und die verfällt doch nach 15 Minuten, heißt es, das sei doch eine Reisegruppe und die seien im Speisewagen gewesen. Müssen die Händchen halten, kam noch der m.E. berechtigte Einwand eines netten Mannes, der neben Stephan sitzt, aber schließlich räumen wir das Feld und ziehen weiter.
Am Sonntag war Atelier-Räumen Teil 2 und auch wieder etwas verstaubte Dinge im Keller sichten, aussortieren. Nicht nur, dass ich endlich meine Gartendecke mit den Fransen wiedergefunden, gewaschen und tagelang gelüftet und mich gefreut habe. Es wurden auch etliche CDs, die ich wohl damals im Atelier gehört habe geborgen, Body Count sowie Billy Holiday und Diane Warwick waren in dem Stapel. Stephan säubert die CDs. Ich stelle dann fest, dass zwei davon leer sind. Jetzt erklärt sich auch, warum eine Billy Holiday und eine Nina Simone CD hier immer ohne Hülle rumgeflogen sind, d.h. zumindest zur Hälfte. Nina Simone kann vorübergehend in der Diane Warwick Hülle Unterschlupf finden. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich der Rest auch noch findet eines Tages.
Ich habe mich heute bei meiner Mutter angekündigt für die Vogelbeerernte. Jetzt habe ich die 45 überschritten und gehe auf die 50 zu und interessiere mich allmählich für die familiären Traditionen und dazu zählt Vogelbeergelee und -sirup (hat meine Oma immer gemacht und wurde mit Wasser aufgegossen. Damals wollte man natürlich lieber was Gekauftes, wie Spezi). Das Vogelbeergelee macht meine Mutter und es ist einfach köstlich zu Käse und ich bin fest entschlossen die Methode jetzt von ihr zu lernen. Die anderen Marmeladen kann man zur Not auch käuflich erwerben und wozu habe ich mich sonst so verkämpft, dass ein Vogelbeerbaum mit der essbaren Sorte als Ersatzpflanzung für die Kastanie vor unser Fenster gepflanzt wird? Mehrfach habe ich mich seit dem geärgert, dass ich nicht rein optisch darüber nachgedacht und mich für eine Magnolie entschieden habe, das kam mir damals gar nicht in den Sinn und ärgert mich seitdem jedes Frühjahr, nein Vogelbeere sollte es sein wegen der familiären Tradition und wenn ich dann das Zeug nicht daraus kochen kann, nützt mir das alles nichts.
Wir kommen an und ich freue mich über die berlintypischen Straßenschluchten sowie die Platten auf dem Bürgersteig. Das Wetter ist bestens und wir sind nach einer Ewigkeit mal wieder im Westen der Stadt, in Kreuzberg. Der Berliner Tagesspiegel punktet am Kottbusser Tor mit der geilsten Überschrift:
Denen bleibt wirklich nichts erspart.
Wir sind sehr zufrieden mit der Unterkunft, die uns privat vermittelt wurde. Sie hat den lässigen Einrichtungsstil, den wir Mitte der 90er schon im Orpée in Regensburg geliebt haben.
Wir ziehen gleich weiter. Fahrräder mieten haben wir uns für den nächsten Tag vorgenommen, weil die Emailanfragen im Vorfeld etwas schleppend anliefen (Urlaub bis 18.07.), der Banhi-Mi Laden gleich um die Ecke hat Sommerpause, aber unsere Laune kann heute nichts trüben und nach einem kurzen Besuch in einem schönen Laden für nostalgische Möbel, Treibgut und einer kurzen Runde durch die Nachbarschaft geht es am Moritzplatz in die U-Bahn.
Ich will an jeder Station die Kacheln fotografieren (Berlinliebe).
Am Gleis stehen zwei Typen, beide ziemlich desolat aussehen und haben Mühe sich auf den Beinen zu halten. Der eine stammt aus Osteuropa, der richtig Desolate aus Ostberlin. Der Dialog zwischen den beiden, die irgendwie feststellen, dass sie beide aus dem Ostblock kommen läuft folgender maßen ab: „Kotti?“ fragt der eine den anderen und der versteht „Koka?“. Daraufhin der erste wieder: „Du hast ganz schön viel getrunken, oder?“ und der „nein, ich habe Heroin genommen, aber nicht jetzt und so“ und dabei hält er sich ein Nasenloch zu. Daraufhin der andere zu ihm: „Das kann man auch spritzen“. Dann geht es um andere Drogen und der Typ, der die Einnahmetipps verteilt hat sagt das Wort „Ephedrin“ woraufhin der andere sehr euphorisch ihn lobt: „Hey, Du kennst ja den offiziellen Namen von dem Zeug. Da weiß kaum einer den richtigen Namen.“ Hier hat man es mit echten Könnern zu tun. In der U-Bahn sind junge Amerikaner, ausgelassen freuen sich sie über mein Hütchen. Die Frau hat ein Kind dabei und sagt ihm: „We’re flying back tomorrow and then you will go to your father and I’ll meet you there on Sunday“. Von ihrem Begleiter will die gut aussehende, junge Mutter wissen: „Do you think the jet lag will be less worse, because he has been going to bed really late?“ bezogen auf ihren Sohn. Sie steigen Eberswalder Straße aus und wollen in den „Spielwarenstore“ dort. Die ganze Stadt ist voller Touristen und an jeder Ecke wird Englisch gesprochen. Wir fahren eine Station weiter und suchen das Hokey Pokey auf, eine Eisdiele über die auf Spiegel online berichtet wurde. Das Eis kommt an Tuchlauben und Tichy und die Wiener Läden nicht ran und kostet 1,60 €. Am Prenzlauer Berg stehen an jeder Ampel 6-10 Kinderkarren. Das ist wirklich auffällig und in einem Laden, in dem wir am Tresen einen Espresso trinken, wird für Mind Cookies geworben. Der besondere Kick, mit Vitaminen und Guarana. Ein Geschäftsmann in Yogahaltung ist zu sehen sowie derselbe Mann, der allerlei Dinge jongliert, Börsendiagramme, Geschenke, Handy, Rechner. Das Männchen ist eine Zeichentrickfigur. Ich nehme den Flyer mit, weil ich lachen muss. Brigitte liest später vor, dass eine Manuela aus Hannover das Produkt lobt mit den Worten, dass sofort glückliche Kindheitserinnerungen wach werden nach dem Konsum.
Ich besuche den Humana in der Eberswalder Straße, aber meine Handtasche ist die coolste im ganzen Laden und auch sonst hat mir der Laden nichts zu bieten. Ein Morgenmantel aus voll Plastik will nun wirklich keiner….
Berlin ändert sich ständig und es lohnt nicht alte Adressen noch mal aufzusuchen, weil was früher einmal cool war ist es jetzt nicht mehr. Neu entdecken ist angesagt.
Wir haben einen Tisch, draußen und essen leckere koreanische Tapas, Pulpo-Salat mit Chorizo und Teigtaschen und trinken Weißwein dazu. Ich überreiche gleich zu Beginn das Hütchen und es steht ihr gut in ihrem dunklen Haar. Vielleicht gefällt es ihr auch, vielleicht ist sie nur höflich. Zu fortgeschrittener Stunde will ich ein Beweisfoto machen, aber ich habe eine rote Nase und fleckige Haut und die geblitzten Fotos sind einfach nur gekünstelt und gequält, so dass ich an dieser Stelle auf die Dokumentation verzichten möchte. Wir hatten einen ausgelassenen Abend und das ist wichtiger als das perfekte Foto und ich kenne die Frau schließlich gar nicht.
Nach einem weiteren Absacker bei unseren Freunden springen wir in die Tram, die dann leider falsch abbiegt und so landen wir an einer Ausfallstraße mitten in der Pampa und laufen zu einem ganz unsympathischen Businesshotel vor dem ein Taxenstand ist. Es hat den Charme von Garbsen. So verschieden kann Berlin sein, erklärt uns der Taxi-Fahrer als ich die Veränderung feststelle. Gerade noch Partymeile und jetzt hässlich und Hund verfroren denke ich mir.