Archiv für den Monat: Juli 2013

So friedlich.

 Ich kaufe die ICE-Fahrkarte für 72,- € erst, wenn Herr A. auch wirklich um 8 Uhr unterm Schwanz am Hauptbahnhof auftaucht. Er ist substituiert und nicht der zuverlässigste. Er ist etwas jünger als ich, wiegt nur ca. 50 kg, hat graue dichte Haare und ist leicht überheblich mit einer dezent aristokratischen Haltung. Er ist schon Auto gefahren mit 9 Jahren und seine Familie hatte mehrere Apotheken und war reich, weshalb sie auch überfallen und geplündert wurden in ihrem Diplomatenviertel in Kabul. Er kommt, ich kaufe die Fahrkarte und hole mir noch einem Latte Macchiato mit Soja. Wie es der Zufall so will, hat jemand seine Latte normal nicht abgeholt, so dass ich ein Geschenk für Herrn A. mitbringe. Er fragt mich nach 10 Minuten: was haben Sie gegen Zucker? Das ist seine Art mir mitzuteilen, dass er gerne welche gehabt hätte. Den holen wir ihm dann aus dem ICE. Wir fahren nach Göttingen und steigen um in CAN und fahren dann vorbei an Wiesen und Feldern nach Friedland. Da haben wir Anhörung in seinem Asylfolgeantragsverfahren. Es ist der 18.06.2013. Herr A. lebt seit ca. 20 Jahren in Hannover und kommt aus Afghanistan. In den 90ern hat er als Lagermeister im Hauptbahnhof gearbeitet für eine Firma, die ca. 9 Gastro-betriebe hatte. Dann kam das Heroin. Im Juli 2012 sollte er abgeschoben werden und ist dem knapp entgegen durch geschicktes Untertauchen. Beim unserem ersten Besuch bei der Ausländerstelle der Stadt Hannover hieß es der afghanische Pass sei abgelaufen und müsse verlängert werden. Als ich das dann brav erledigt hatte, holte der niedliche kleine Mitarbeiter mit dem coolen Band-t-shirt bei unserem nächsten Besuch seinen Stellenleiter, der uns verkündete, die Abschiebungshindernisse seien nun beseitigt und den Pass würde er einbehalten und zur Akte nehmen. Seit dem traue ich dieser Stelle endgültig nicht mehr. Es folgte, Akte kopieren im Amt, Härtefallantrag stellen, der keine Erfolg haben wird, weil Herr A. kein niedlicher Vorzeigeausländer ist, sondern drogenabhängig mit reichlich Vorstrafen und eben der Antrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der uns bei 36 ° Tageshöchsttemperaturen nach Friedland führen wird.

Herr A. schläft etwas im Vorortzug und ich überwache seinen Schlaf. Als wir ankommen in dem Kaff, muss ich mich erst mal orientieren und da das nicht geht, frage ich einen Gleisarbeiter nach der Bahnhofstraße. Wir laufen zur Außenstelle des Bundeamtes. Es ist schon reichlich warm und einen Bürgersteig haben sie sich nur auf einer Seite der Straße gegönnt. Wir fragen am Empfang wo wir hin müssen und kommen in ein großes Wartezimmer mit einer Tür aus Panzerglas ohne Klingel. Mit uns warten 9 Kinder, 26 Erwachsene, eine Schwangere. Es sind Menschen aus allen Ländern, Ostblock, Asien. Ein junger Mann mit kurzer Hose gegenüber sortiert seine Unterlagen. Gelegenheit geht einer der Wartenden zur Tür und klopft beherzt dagegen. Das lockt einen 2 Meter großen, dicken Deutschen hervor, der Gummi-Handschuhe trägt und in einer zurück weisenden Geste mit lauter Stimme, Ruhe, zurück, einer nach dem anderen und ähnliche Befehle von sich gibt, so dass man den Eindruck gewinnt, es handele sich um Tiere. Auch ich trage mein Anliegen vor bei dieser Gelegenheit. Warten heißt es. Dann erscheint eine Frau, die mir erklärt, dass sie gerade mitten in der Anhörung einer Minderjährigen sei und dass das noch 1,5 Stunden dauern würde und will vorschlagen, dass wir uns noch etwas die Beine vertreten. Ich sage, das geht nicht. Ich muss wieder ins Büro. Sie erzählt mir was davon, dass die Rechte gewahrt werden müssten und ich bestimmt Verständnis dafür hätte und ich sage was von Zeitmanagement und Termine vergeben mit Rücksicht auf auswärtige Besucher, die anreisen. Es wird dann eine andere Lösung gefunden, wenn der Dari-Übersetzer frei wird (Herr A spricht fließend Deutsch, aber es ist offenbar Vorschrift) und Herr A. muss erst erkennungsdienstlich behandelt werden (und zwar die beiden Daumen und dann alle 10 Finger nacheinander), soll das Interview von einer anderen Kollegin geführt werden, Frau V., wenn ich einverstanden bin. Ich bin. Die Behörde wird gerade umgebaut oder renoviert, jedenfalls kommt neuer Teppich rein und Maschinen stehen herum und Bauarbeiter und das erklärt uns Frau V. dann auch ausführlich zu Beginn des Interviews, dass es Lärm geben könne wegen der Bauarbeiten und, dass wir nicht erschrecken sollen und, dass nichts mit uns oder Herrn A. zu tun hätte und keine ihrer Fragen als Beleidigung zu verstehen sei, dass sie den Sachverhalt aufklären müsse in dem Interview und dies der wichtigste Teil des Verfahrens sei. Es geht los. Vorgeschichte, Mudschaheddin, Heroin, Abschiebungshindernisse und restliche Familie des Herrn A sind unsere wichtigsten Themen. Nach knapp 2 Stunden ist es vorbei. Sie möchte einen aktuellen Arztbericht.

Wir verlassen diesen Ort und gehen zurück zu den Bahngleisen mitten im Nirgendwo und verpassen einen Bummelzug und müssen 40 Minuten in der sengenden Sonne inmitten der ländlichen Hochsommerlandschaft warten. Die mit uns Wartenden mehren sich. Es sind zunächst 5 junge indisch-aussehende Männer. Kurz denke ich an Massenvergewaltigung und verwerfe die Idee. Einer beschallt uns mit seinem Handy und Herr A erklärt mir, dass es indische Musik sei. Darauf wäre ich alleine nicht gekommen. Die jungen Typen kommen aus Pakistan und Herr A kann sie verstehen. Einer, der modisch besonders auffällig bekleidet ist mit kurzer roter Hose und riesigen goldenen Nike-Turnschuhen, ergänzt sein Outfit mit der schwarzen Basecap, die am Bahnsteig liegen gelassen wurde. Auf ihr steht: „Norddeutsche Griller sind härter“ oder so ähnlich. Es kommen immer mehr aus dem angrenzenden Wohnheim zur Bahnhaltestelle und den Frauen und einem älteren Ehemann wird Platz gemacht auf der Bank. Dann erscheint eine junge Deutsche, die das fashion victim begrüßt mit den Worten: „bist Du immer noch da?“ Er steht ganz gerade und strahlt sie an. Das bringt mich darauf, Herrn A vorzuschlagen, heiraten wäre auch eine Möglichkeit. Er weist es von sich, so etwas würden Pakistanis machen, aber er nicht. Er hilft noch einem deutschen Rentner, der mit dem Fahrkartenautomaten nicht zu Recht kommt und als erster mit uns gewartet hat und immer noch keine Fahrkarte ziehen konnte. Endlich fährt unser Zug ein. Die Gruppe junger Männer sitzt alle hintereinander und zum Teil fassen sie sich an der Schulter an. Es erinnert an eine Gruppe von Affen. Sie sehen entspannt aus und demonstrieren auf natürliche Art und Weise ihren Zusammenhalt oder stärken diesen durch Berührung. Sie sind keine Affen, sondern zuversichtliche, junge Männer, die in der Fremde zusammen unterwegs sind. In diesem Fall aus dem ländlichen Hölle nach Göttingen. Herr A und ich steigen um und kriegen noch einen verspäteten ICE aus München.

Die Horrorburg mit den drei Buchstaben

Am 25.06. habe für Herrn W. um 13 Uhr einen Termin zur Nachbesprechung seiner Bestrahlung. Herrn W. kenne ich einige Jahr, er kommt aus dem Osten und sieht aus wie ein Nebendarsteller aus einem Western. Er ist Alkoholiker, Mitte 50, Frührentner und viel von einem Mitsäufer, einem Herrn S. in seiner Wohnung verprügelt und beklaut worden. Das war immer grenzwertig, aber er wollte dort bleiben. Keine Unterlassungsverfügung half, weil er immer brav aufgemacht hat und irgendwie auch lieber krawalligen Besuch haben wollte als alleine zu sein und Heim sowieso nicht.

Herr W klagte eine Tages über Halsschmerzen und ist am 26.02. in Begleitung des Sozialarbeiters (ambulante Wohnbetreuung) über NHO-Arzt im Nordstadtrankenhaus gelandet. Dort wurde ein Tumor im Hals entdeckt. OP-Termin war anberaumt für den 18.03.2013. Dann kam Atemnot, Notaufnahme, künstliches Koma mit Beatmung am 04.03. und OP am 06.03. (Tracheotomie). Es stellt sich heraus, dass der Tumor durch alle Halsschichten hindurch gewachsen ist und daher nicht zu operieren. Magensonde folgte. Am 05.06. wurde die Bestrahlung beendet wie ich zufällig erfuhr durch einen Anruf in der Horrorburg.

Am heutigen Tag muss ich zunächst durch das Kreuzfahrtschiff laufen und komme dann an der Anmeldung HNO an. Der Schalter ist mit zwei Damen besetzt, aber die bedienen nicht gleichzeitig. Die Patienten warten sehr lange, teilweise auch welche mit Tracheostoma und Schläuche, die überall zum Vorschein kommen und die sich kaum auf den Beinen halten können. Man fragt sich, was so lange dauern kann. Ich bin an der Reihe, ja, ich will Herrn W. anmelden, die Überweisung kommt gleich mit ihm, der in Begleitung der Johanniter kommen wird. Ich bekomme die Nr. 54. Es ist 12:35 Uhr. Aus der Anmeldebox hört man immer so gestresste Wortfetzen wie: „das nennt man Burnout“ und „wer hat das denn wieder gemacht, ich glaub es nicht“, „ich finde die Akte nicht“. Herr W. erscheint in Begleitung von zwei netten Pflegern. Alle tragen Mundschutz, denn er hat einen Orsa-Keim, den er sich zuvor in diesem Haus eingefangen hat. Einen Extraraum gibt es nicht, er soll im Gang etwas abseits warten. Ich überreiche die Überweisung. Eine Mitarbeiterin ist der Meinung, ja, aber für das letzte Quartal fehle diese und sei schon mehrfach abgemahnt. Sie komme gleich wieder. Sie kommt nicht wieder. Ich stelle mich erneut an um den Sachstand zu erfragen. Dann heißt es Irrtum. Wir warten knapp 2 Stunden. Ich gehe mehrfach zu der Box. Die Frauen hauen schon ab, wenn sie mich sehen. Auch andere Patienten sind abgenervt: „Wir warten hier schon seit 4 Stunden und wir kommen aus Bielefeld“. Mir sagt man nach erneuten 10 Minuten anstehen an der Box: Behandlungsraum 3 seien noch 2 Patienten vor uns. Wie eine Hütehund behalte ich alles im Auge als die Nr. 39 und 53 zwei Patientinnen in dem Raum waren, kommt Nr. 56 an die Reihe. Ich wieder nach vorne. Man kann mir nicht weiterhelfen. Eine andere Frau meint als sie das mitbekommt: „das geht an die Substanz“. Als 56 raus geht, husche ich in den Raum rein. Ein persisch aussehender Arzt sitzt vor einem Rechner. Er weiß nicht um was es geht und muss sich Berichte des Krankenhauses aus meiner Akte kopieren. Sei Herr W. denn schon bestrahlt worden? Ja, heute Nachbesprechung, erkläre ich dem Arzt. Wir kommen in einen OP-Raum. Der bisherige Bewohner, im Rollstuhl und ebenfalls mit Mundschutz muss weichen und sitzt nun im Gang. Wieder vergeht eine halbe Stunde und man fühlt sich wie auf dem Abschiebegleis. Ich frage den anderen Mann: Sie hat man wohl auch hier vergessen? Er kann nicht richtig sprechen und zuckt mit den Schultern. Dann kommt der Arzt von eben mit einem Kollegen. Dieser zieht sich Mundschutz und Handschuhe an und zieht das Tracheoskop leicht aus dem Hals, ohne vorher ein Wort an mich oder meinen Schützling zu richten. Diese Aktion wirkt sich aus als würde man einen Knick in den Beatmungsschlauch eines Beatmeten biegen, d.h. Herr W. wird geschüttelt von einem Hustenanfall. Ich sehe das Loch im Hals und kann kaum hinsehen. Dann heißt es, Krebs noch da, macht alles keinen Sinn. Bestrahlung geht nicht mehr, weil der Mensch verträgt nur eine bestimmte Menge an Bestrahlung, vielleicht medikamentöse Therapie, erst mal Staging usw. Ich frage nach, was das genau bedeutet. Außerdem erinnere ich mich an die Worte zu Beginn der Sache am 30.04. Bestrahlung, gute Erfolge, dann ist das Ding weg. Ich war ja damals schon skeptisch angesichts des Optimismus der Schulmedizin und meine Erfahrungen mit anderen Fällen. Leicht angeekelt lässt mich der Doktor nun wissen, dass es wohl recht beschissen aussieht und wenn der Tumor durch die Haut bricht, muss man einen Hautlappen davor nähen. Irgendwie so was. Herr W., der seine Freiheit liebt und nun im Pflegeheim lebt wollte wieder in seine Wohnung zurück und versteht aufgrund des Korsakows recht wenig. Das ist vielleicht auch besser. Mittlerweile sind mehrere Abholdienste eingetroffen und mindestens noch ein Orsa-Patient, der allerdings mit einem Freund und zu Fuß da ist. Beide tragen Mundschutz. Es mutet an wie in einem Science Fiction und die Mitarbeiter des Hauses beschweren sich auch: was das denn sei, drei Orsa-Patienten auf einmal. Ja, Mensch, bei euch haben sie sich das doch vorher eingefangen, will man sagen. 

Ich will für den Rücktransport sorgen nach knapp 4 Stunden. Dafür sei eine Schwester zuständig heißt es aus der Box, die würden dahinten rumlaufen. Die Schwester ist ein asiatischer Pfleger. Ich gebe ihn den kopierten Transportschein, auf den ich mir die Rufnummer von dem Bringdienst habe notieren lassen sowie eine Kopie der Kostenzusage der Krankenkasse. Ja, er kümmert sich. Ich stelle mich noch mal an die Box an. Ein letztes Mal. Der dritte Orsa-Patient wartet hinter mir. Im Gegensatz zu den anderen hat er ganz wache Augen und schaut mich interessiert an und lächelt über seine Augen. Mund ist ja hinter der Keimburka versteckt. Er ist sehr sympathisch und ich lächele zurück mit allem was mir zur Verfügung steht. Es haben sich endgültig alle Frauen verpisst und sie kommen auch nicht auf ein „hallo“ in die Box hinein. Der Asiate schaut auf der anderen Tür raus, alles sei klar. Transportdienst kommt und zu Herrn W. auf seine Frage, wie lange das dauern würde zwischen 20 – 45 Minuten. Ich bleibe trotzdem bei der Box bis meine Freundin erscheint. Ich sage ihr. Ich gehe jetzt. Herr W. wartet dort, wo er die ganze Zeit über sitzt. Der Asiate hat die Unterlagen für den Rücktransport in die Akte genommen. Kaum im Büro angekommen kommt der Anruf der Johanniter, ob es einen Transportschein gebe und wo dieser sei. Das Krankenhaus meinte, die Betreuerin habe ihn mitgenommen. Es ist schwer an dieser Stelle nicht auszuflippen, aber ich mache meinem Unmut über diesen Chaos-Haufen freien Lauf. Die Frau bedankt sich für die Info. Ich hätte jetzt doch weiter geholfen im Gegensatz zu der Horrorburg mit den drei Buchstaben.

 Es kann einem viel passieren, aber Gott beschütze mich vor so etwas am eigenen Leib, ist mein Fazit des Tages.